hat neben dem Denken interessanter Gedanken noch das Hobby, Romane und Kurzgeschichten unter
Lizenz zu veröffentlichen. Sein Erstlingswerk
, wo es ebenfalls kostenlos heruntergeladen werden kann. Jetzt weiß ich: ja, man kann ein fast 300seitiges Buch komplett am Bildschirm durchlesen und – Cory Doctorow ist mitnichten ein "William Gibson auf Speed", genauso wenig wie der neue Neil Stephenson.
Cory Doctorow hat am
Web 2.0 einen Narren gefressen, und das merkt man jeder Zeile seines Buches auf fast schon penetrante Art und Weise an. Wenn Hauptperson Julius den Geistesblitz hat, die Figuren seiner modern-altmodischen Disney-World Geisterbahn von online-Usern fernsteuern zu lassen, die sich dieses Privileg in der Community verdienen müssen, ist das eine so platte Extrapolation von
Wikipedia und
WoW, dass es fast schon weh tut. Ja, wir haben verstanden: eine Webseite ist dann gut, wenn ihre Besucher den Content selbst erstellen.
Die postmonetäre Währung in Doctorows Welt, der "Woppel" (zugegebenermaßen eine würdige Übersetzung für das genauso unverständliche
whuffie), hat es zu ihrem eigenen Wikipedia-Artikel gebracht und wird den ein oder anderen übereifrigen Soziologiestudenten sicher noch zu einer Seminararbeit animieren. Unnötig zu erwähnen, dass die Bewohner von Doctorows Zukunftsvision ständig per Headmount-Display online herumlaufen, um – beispielsweise – den Woppelstand ihres Gegenübers abzurufen. Ach ja, und man kann beliebig viele Kopien seines Gehirns offline auf Festplatte speichern (daher der prosaische Denglische Titel
Backup), um sie nach dem Tod oder nach Belieben auf eine (gern auch leicht modifizierte) neue geklonte Version seiner selbst aufzuspielen.
Die meisten Dinge glaubt man, irgendwo schon mal gehört zu haben. Persönlichkeiten abspeichern gab es schon bei
Neuromancer
. Walt Disney World als postmoderne Behausung für eine verschworene Gemeinschaft von Siedlern, William Gibson lässt bereits in
Virtuelles Licht
die
Oakland Bay Bridge als Ikone der Jetzt-Zeit zu einer Kleinstadt mutieren. Nur ungleich dreckiger und – atmosphärischer. Das ist auch das Problem mit dem gesamten Roman: der Funke will einfach nicht überspringen, zu steril wirkt der Hintergrund vor dem Doctorow seine Thesen plazieren möchte.
Auch erzähltechnisch ist Doctorow den Klassikern, mit denen er verglichen wird, hinterher. Wichtige Wendepunkte in der Handlung, das Aufdecken von Geheimnissen, Verschwörungen, werden so geschickt eingeleitet wie bei
Rosamunde Pilcher
. In der Regel belauscht Julius die nicht für seine Ohren bestimmten Gespräche einfach, nachdem er – natürlich – rein zufällig zum richtigen Zeitpunkt hinzu gekommen ist.
Cory Doctorow bedient sich, nicht anders als jeder andere Science-Fiction Autor heutzutage, aus dem umfangreichen Repertoire seiner Vorgänger und fügt einige neue, eigene Ideen hinzu. Doch fehlt es seinem Roman durchweg an Tiefe. Es fällt schwer, in seine Welt hineinzufallen wie bei Neuromancer oder
Snow Crash
. Auch seine gesellschaftlichen und technologischen Visionen sind nicht so brillant wie sie oft gelobt werden. Neil Stephenson hat in Snow Crash
second life vorweggenommen, Doctorow spinnt existierende Konzepte nur weiter und treibt sie auf die Spitze, und das nicht mal besonders originell.
Hin und wieder blitzen jedoch einige gute Allegorien auf das heutige Internet auf, etwa wenn Julius' angeheuerte Helfer aus dem Netz kurzerhand sein ganzes Geschäft übernehmen und nach ihren eigenen Vorstellungen umgestalten. Auch
Jimbo Wales musste neulich feststellen, dass die Revolution durchaus in der Lage ist, ihre Väter zu
fressen.
Das innovativste Konzept in dem Roman ist sicherlich der Woppel. Er steigt zusammen mit dem Ansehen, dass man bei seinen Mitmenschen genießt, also eine Art
Google-PageRank für Personen. Wer viel davon hat, kann sich fast alles nehmen, auch den Sportwagen seines Nachbarn. Wer keine hat, den füttert die Gemeinschaft wenigstens noch durch und gibt ihm ein Dach über den Kopf. Zusammengefasst: das Woppel-System bestimmt den eigenen Anteil am kommunistischen Gemeinschaftseigentum und garantiert gleichzeitig ein
Bürgergeld für alle Fälle.
Das bemerkenswerte an diesem Roman ist weniger sein Inhalt als seine Vermarktung. Die Veröffentlichung unter CC-Lizenz gibt Nutzern bislang unvorstellbare Freiheiten. Jeder darf den Text nach Belieben modifizieren und weiter verbreiten, solange es nicht-kommerziell und unter Nennung des Autors geschieht. Das schließt "herkömmliche" Bearbeitungen wie Übersetzungen mit ein, ebenso wie Fan-Fiction oder Veränderungen an der Substanz des Textes selber. Per copy&paste könnte man "Woppel" in
"Pesos" ändern, "Julius" in "Juán" und die Geschichte im Heide-Park Soltau statt in Disney-World spielen lassen. Vielleicht könnte man auch einen
wirklich guten Roman draus machen.
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Was, wenn Google böse wird? Was, wenn Google schon böse ist? Cory Doctorows Kurzgeschichte spielt in der nahen Zukunft und thematisiert, was vielen immer noch nicht klar ist: Das Internet vergisst nichts. Dank Doctorows Faible für Creative Commons Lizenze
Aufgenommen: Feb 19, 23:10